«Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!» Was wir landläufig mit diesem Sprichwort umschreiben, ist ein Aufruf zu einer unerschrockenen Haltung, verbunden mit dem mutigen Wagnis, auch mal ein Risiko einzugehen. Warum nur tun wir uns hierzulande so schwer damit?
Das Schiff zerbirst am Felsen und zerfällt in seine Einzelteile. Lose treiben die Holzscheite im Meer. Aus diesem «Zerscheitern» eines Schiffes entstand der Begriff des Scheiterns. Heute setzen wir «scheitern» damit gleich, ein angestrebtes Ziel nicht zu erreichen oder keinen Erfolg zu erzielen. Also Misserfolg zu erleiden – für mich ein sympathischerer Begriff als der menschliche Schiffbruch.
Träume platzen, Pläne misslingen, Kräfte versagen, Existenzen stranden und Ehen gehen in die Brüche – kurz: Misserfolge gehören zur Tagesordnung. Und trotzdem spricht hierzulande niemand gern darüber. Wir tun uns schwer mit knallhart als «Scheitern» bezeichneten Fehltritten in unseren persönlichen oder beruflichen Biografien. Scheitern ist immer eine Niederlage. Die Gesellschaft setzt Misserfolg mit Schwäche gleich.
Die Negativität des bedrohlichen Scheiterns veranlasst uns wiederum dazu, Risiken tunlichst zu vermeiden, im schlimmsten Fall durch Nichtstun in einer Notsituation oder durch passives Verharren in der Komfortzone mit der Faust im Sack.
Keine Abenteuer im Recruiting
Die Angst vor Misserfolgen beobachten wir auch in der Personalrekrutierung, wo oft die Devise der Risikovermeidung gilt. So finden etwa von der Norm abweichende CVs nur selten Anklang. Die Profile, nach denen Unternehmen suchen, haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr verengt. Gesucht wird die perfekte Besetzung für eine Stelle, die zu 100 Prozent deckungsgleich ist mit ihren Anforderungen und keinerlei «Makel» aufweist. Bloss kein Risiko eingehen!
Vorschnell und schneidend sind die gehörten Vorurteile zu «Brüchen in der Biografie». Als ob es heutzutage mit Corona-Schliessungen, Firmenverlegungen und -verkäufen nicht genügend Gründe dafür gäbe, ohne eigenes Verschulden zu scheitern.
Bei manchen subjektiv empfundenen Bruchlandungen handelt es sich rational gesehen nämlich um simple Missgeschicke oder ganz einfach um Pech. Und nur, weil etwas nicht gelungen ist, hat ein Mensch auch nicht auf der ganzen Linie und für immer Schiffbruch erlitten, sondern eben nur jetzt gerade, in dieser einen Sache.
Scheitern setzt Handeln voraus, und Handeln strebt nach Erfolg. Beide – Erfolg und Niederlage – sind die Vor- und Rückseite derselben Medaille: des Handelns.
Wer nichts tut, kann nicht scheitern – scheitert aber genau daran, dass er keinen Versuch unternimmt. Um den ehemaligen kanadischen Eishockeyspieler Wayne Gretzky zu zitieren: «Du verfehlst 100 Prozent der Torschüsse, die du nicht machst.» Wer aber aktiv wird und den Erfolg anpeilt, wird das potentielle Unvermögen einkalkulieren und nach und nach überwinden.
Nur Scheitern bringt uns weiter
Scheitern und Misserfolge sind ein ganz normaler Teil von Lern- und Entwicklungsprozessen. Erfolg stimuliert nicht im gleichen Mass zur Selbstreflektion wie Misserfolg: Worin liegt der Misserfolg begründet? Hat man die Zeichen nicht erkannt, sich selbst überschätzt, das eigene Bauchgefühl überhört? Wer sich selbstkritisch hinterfragt, hat die Chance, es beim nächsten Mal besser zu machen und über sich hinauszuwachsen.
Was wäre aus all den weltbekannten, kreativen Köpfen geworden, die in ihren Leben teils markante Brüche aufweisen, wenn ihr Leben perfekt verlaufen wäre? Die Geschichte lehrt uns, dass jeder erfolgreiche Unternehmer schon mindestens einmal gescheitert ist.
Denken wir an Steve Jobs, der Apple im Jahr 1985 nach einem internen Machtkampf verlassen musste. 12 Jahre später kam er zurück und machte das Unternehmen mit seinen Ideen zu einem der erfolgreichsten der Welt. Oder an den Bestseller-Autoren Stephen King, der bei seiner verzweifelten Suche nach einem Verleger für sein erstes Buch überall abblitzte. Bis er es selber veröffentlichte und weltweit über 350 Millionen Exemplare verkaufte. Schriftsteller*innen sind ein Paradebeispiel für das «Scheitern» vor dem Erfolg. So wie Stephen King ging es auch Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling oder Joanne Harris, der Autorin des später Erfolgreich verfilmten Buchs «Chocolat».
Scheitern zulassen ist auch wichtig für Unternehmen
Die Erkenntnisse über Scheitern, Misserfolge und Schicksalsschläge sind auch für Unternehmen von Belang: In vielen Firmen versucht das Management nämlich, das Risiko eines Misserfolgs präventiv zu vermeiden. Exemplarisch zeigte dies jüngst das Beispiel von Blackstone-CEO Stephen Schwarzman, der am 28. März 2021 in der «NZZ am Sonntag» sagte: «Wir versuchen konstant, Risiken zu vermeiden.» Schwarzman wolle Risiken schon bei der Mitarbeiter-Auswahl ausschalten. Er verlange von seinen Angestellten eine Null-Fehler-Kultur.
Ein aussichtsloses und kontraproduktives Unterfangen. Denn nicht scheitern zu dürfen, führt zu einer Angstkultur, die jede Kreativität im Keim erstickt. Nur wer Fehler zulässt, erlaubt sich die Chance des Lernens und Wachsens. Nur wer sich selbst und anderen die Erlaubnis gibt, zu scheitern, kann seine Kreativität und sein Potential voll entfalten. Eine positive Fehlerkultur erlaubt es der Gesellschaft und Unternehmenswelt, Misserfolg zunehmend als Treiber hin zu Innovation, Entwicklung und Wohlstand zu sehen. Die Frage lautet lediglich: Wieviel Scheitern soll, will und darf man zulassen? Interessanterweise gehen verschiedene Kulturen mit diesem Thema diametral unterschiedlich um: Gegen Westen steigt die Toleranz gegenüber Niederlagen tendenziell, gegen Osten sinkt sie.
Schwarzmans Haltung ist ein krasser Gegensatz zur Philosophie des Silicon Valley, wo Scheitern gefeiert wird wie nirgends sonst. In den USA generell ist Scheitern Teil der Lebensrealität, setzen Handeln voraus und beweist Unternehmertum. Wer in den USA scheitert, erfährt Anerkennung und Wertschätzung als «Stehaufmännchen» – «no retreat, no surrender».
Scheitern als Lebensweg
Was wir brauchen, sind beherzte Vorbilder, die Scheitern als Lebensweg und Lernerfahrung vorleben und experimentierfreudige Umgebungen schaffen, um kreative Lernkulturen zu fördern.
Ich wünsche mir, gerade in Zeiten der verheerenden privatwirtschaftlichen Folgen der Pandemie, dass Scheitern zukünftig erlaubt sowie von Schmach und Scham befreit wird. Ich wünsche mir einen wohlwollenden Umgang mit Rückschlägen und Niederlagen. Ich wünsche mir, dass Menschen für ihren Mut Wertschätzung bekommen – auch wenn es schiefgeht. Ich wünsche mir, dass Menschen für ihre Stärke, mit Niederlagen umzugehen, Anerkennung erfahren. Denn ein Leben ohne Fehltritte bedeutet Stillstand. Und diesen können und dürfen wir uns nicht leisten.